Portrait Maria A. Niederberger August 2007

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BETWEEN TWO CONTINENTS:

My life, told by myself — until 1998
(sorry, not in English yet!)

So far, only the captions have been translated from German. The entire story takes somewhat longer to translate...

Emigration
Starting Over
My Musical Roots
University of California Davis
Massachusetts
Arlington
Brandeis University
Commission from Pro Helvetia
A Day In The Life...
Historical Details About Women Composers

 

THE MAKING OF A COMPOSER —
Short Description of a «Long Journey»

(by Maria A. Niederberger)

Emigration to California, 1975

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Es ist das Jahr 1972. Da habe ich einen unvergesslichen Traum, der sich später fast als Wahrsagung entuppt. Mir träumt, dass ich währernd meiner Geigenstunde plötzlich von einem starken Wind fortgetragen werde. Unter Sturmgebrause versetzt mich dieser in einen farbenfrohen spanischen Saal, wo unzählige Trommelwirbel und ein aus allen Richtungen dröhnender Sprechkanon verkünden: «Du wirst... wirst den musi...usikalischen Rhythmus vom Indianer...aner erlernen...ernen». Allmählich verstummen die Stimmen, und nach und nach legt sich auch der wilde Sturm. Nun aber sehe ich plötzlich mit Erstaunen, wie sich meine Geige verwandelt. Sie nimmt eine menschenähnliche Gestalt an, klettert von meiner Schulter und tanzt auf die Bühne, wo sie zusammen mit anderen Gestalten eine seltsam mitreissende Musik anstimmt...

Nach jähem Erwachen hin ich überzeugt, dass dieser Traum etwas Aussergewöhnliches bedeutet, obwohl ich sonst nicht abergläubisch bin. In Bücherläden suche ich sogar Auskunft über Indianerkunst in der Hoffnung, das seltsame «Orakel» meines Traumes verstehen zu können. Noch aber ahne ich nicht, dass mich mein Schicksal schon bald in das ferne Land der Indianer, nach Amerika, versetzen soll.

Es ist 1975. Ich durchlebe einen besonders schwierigen Augustmorgen, denn ich bin gar nicht begeistert, dass ich mit meinem Mann und den beiden Kindern, dem dreijährigen Adrian und der einjährigen J.Sarah nach Amerika auswandern soll. Bis jetzt bin ich in Zürich als MEZ-Musiklehrerin tätig gewesen und habe mich in meinem Freundeskreis glücklich gefühlt. Die Abschiedsstunde ist für mich viel zu früh gekommen, und wie betäubt muss ich die guten Wünsche von Eltern, Geschwistern und Freunden entgegennehmen. Nebst dem spannenden Erlebnis einer neuen Umgebung bringt unsere Ankunft in Kalifornien auch böse Überraschungen. Die schlimmste ist, dass wir noch nicht in unsere Studentenwohnung in Davis einziehen können. Das bedeutet, dass wir vorübergehend bei den Schwiegereltern in Sacramento logieren müssen. Die beiden Kinder finden zwar die liebevolle Bewunderung ihrer amerikanischen Tanten, registrieren aber unsern Stress wie kleine Barometer und machen mit kindlichem Unmut bekannt, wie eng und unbequem der neue Lebensraum ist. Dazu leidet unser Dreijähriger sehr darunter, dass fast niemand mehr sein Schweizerdeutsch verstehen kann. Die komplizierten Umstände machen natürlich nicht nur den Kindern zu schaffen. Weihnachten kommt... grüne, warme kalifornische Tage, die mich wie Frühling anmuten. Endlich zügeln wir nach Davis und richten unsere eigene Studentenwohnung ein. Das geordnetere Leben aber lässt nun plötzlich eine unvorhergesehene Pein in mein Bewusstsein treten.

In stillen Stunden, während mein Mann an der Uni studiert und die Kinder draussen spielen, schleicht sich nagend das Bewusstsein in meine Seele, dass ich mich in diesem fremden Lande nicht zuhause fühle. Es wäre wahrscheinlich einfacher, Heimweh zu malen, als es zu beschreiben. Ich würde eine Leinwand mit knallroter Farbe bestreichen. Dann bepinselte ich diese Fläche mit groben, schwarzen und braunen Strichen. Das grelle Rot würde dazwischen immer wieder erbarmungslos hervorstechen.
Noch keine Auswanderin ist wohl von der Qual einer tiefen Zerrissenheit verschont geblieben. Aber wenn das Schicksal einen Menschen herausfordert, wird es der Seele möglich, ungeahnte Kräfte zu mobilisieren. Während ein Teil meines Herzens um Heimat und Freunde trauert, sucht ein anderer mit doppeltem Elan nach neuen Entfaltungsmöglichkeiten.
In meinem tiefsten Wesen ahne ich, dass mir irgendwie eine bedeutungsvolle Verbindung zwischen meinem Leben auf dem alten und dem auf dem neuen Kontinent gelingen müsste.


A New Beginning in the Fall of 1976

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Unversehens kommt mir die Musikmuse mit hilfsbereiten Händen entgegen. Kurz nach unserer Ankunft in Davis treffe ich Professor Bloch, der an der University of California, Davis (UC Davis) Violine und Musiktheorie unterrichtet. Er lädt mich zu einem Vorspiel ein und nimmt mich sofort als private Violinschülerin an. Nebst dem wöchentlichen Unterricht wirke ich auch noch zweimal wöchentlich im Universitätsorchester, wo ich erste Geige spiele. Mein Musizieren ist vorerst eine Erholung von meinen Pflichten. Aber schon bald genügt mir das hobbymässige Musizieren nicht mehr, und ich fühle ein starkes Bedürfnis, mir ernsthafte, systematische Musikkenntnisse anzueignen. Ob ich wohl ein Studium absolvieren und gleichzeitig meinen Familienpflichten nachkommen könnte?

Mit Professor Blochs Ermunterung bewerbe ich mich um Aufnahme als Teilzeitstudentin an der Universität. (Da die Studienplätze an der UC Davis beschränkt sind, werden diese entsprechend der Leistung vergeben.) Im Herbst 1976 besuche ich meine ersten Vorlesungen in Musiktheorie und Musikgeschichte. Von einem solchen Schritt hätte ich früher kaum zu träumen gewagt. Etwas beunruhigt frage ich mich, ob wohl meine bisherigen musikalischen Kenntnisse, die ich vor allem von der Schweiz mitbringe, eine genügende Grundlage für dieses Studium bilden.


Musical Beginnings in Switzerland

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Für das Bauernkind im Oberdorf der 50er Jahre gibt es fast jeden Tag etwas Neues zu lernen und zu entdecken. Meine Eltern wollen mich auch immer fleissig arbeiten sehen. Mutter nimmt die Schulaufgaben derart ernst, dass sie mich diese jeden Tag abfragt, bevor ich draussen spielen darf. Von einem Universitätsstudium aber ist nie die Rede, ja, es existiert in meiner kleinen Weit nur für die Kinder reicher Leute. Ich bin eine geschickte Schülerin, die sich kaum Schulsorgen zu machen braucht. Nur um die Note in ‘Betragen’ muss sich dieses wilde, eigenwillige Mädchen besonders anstrengen. Schon früh fühle ich mich zur Musik hingezogen, singe mit Begeisterung in der Schule und spiele auf einer alten Mandoline, die ich im Eckschrank unserer Stube gefunden habe. Oft träume ich davon, selbst Musikerin werden zu dürfen, aber meine Familie hat dafür lange Zeit kein Gehör. Mit allerlei Schlichen und ernsthaften Manövern gelingt es meiner Schwester Margrit und mir aber endlich doch noch, die Einwilligung der Eltern in privaten Musikunterricht zu gewinnen. Das ist ein wichtiger Schritt in meinem Leben. Die Stanser Geigenlehrerin Ida Jann wird unsere erste Musiklehrerin.

Sie erkennt schon bald, dass sie uns musikalisch und menschlich viel mitgeben kann. Nebst der Violinstunde lädt sie uns beide deshalb oft zum Sonntagstee, zu einem Nachmittag des Musizierens, Musikhörens und Plauderns in ihre Wohnung an der Buochserstrasse ein. Für Margrit und mich sind diese Stunden immer ein besonderes Erlebnis, weil Fräulein Jann uns Schallplatten abspielt und geheimnisvoll-komplizierte Partituren erklärt und uns auf diese Weise sachte in die grosse Welt der Musikliteratur einführt. Für mich ist das neue Lernen so anspornend, dass Musik einen immer wichtigeren Platz in meiner Gedankenwelt einnimmt. Ida Jann ist eine Stütze und ein Vorbild für mich.

Nach der Sekundarschule geht es ans Semi in Menzingen, wo ich mich so viel wie möglich musikalisch engagiere und meine Kenntnisse noch mit Chorsingen, Klavier- und Blockflötenunterricht ergänze. Aber leider ist dort die Musik nur ein Nebenfach, das mit allen andern Fächern bewältigt werden muss.


Studying at a University: UC DAVIS

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An der Universität in Kalifornien erfahre ich schon am ersten Tag, dass sich das Bildungswesen in den USA fundamental vom europäischen unterscheidet. Ich bin sehr überrascht, dass die Musikvorlesungen nur in kleinen Gruppen von etwa dreissig Studenten stattfinden, und dass vor allem sehr viel Praktisches auf dem Programm steht. In den fünf wöchentlichen Musiktheoriestunden werden wir in Gehörbildung, Kontrapunkt, Harmonielehre, Analyse, Partiturspiel und Komposition unterrichtet. Von Vorlesung zu Vorlesung setzen wir uns schriftlich und musikalisch mit dem Gelernten auseinander. Unsere ‘Hausaufgaben’ werden dann persönlich von den Professoren kontrolliert und kommentiert. Theoretische Konzepte werden nicht nur diskutiert, sondern auch in angewandte Projekte, meistens Kompositionen, umgesetzt, was natürlich nicht allen Studierenden im gleichen Masse gelingt. Im privaten Rahmen, mit den Studierenden und Professoren selbst als lnterpreten und Interpretinnen, führen wir von Zeit zu Zeit die neu komponierten Fugen, Inventionen, Sonaten und Lieder auf und besprechen die Ergebnisse. Auf diese Weise entdecke ich meine Freude am Komponieren. Meine Kompositionsarbeit macht mir bewusst, wie einflussreich meine früheren praktischen Erfahrungen im Chorgesang, im Geigen-, Klavier-, Flöten- und Orchesterspiel sind. Oft habe ich den Eindruck, dass mir Melodien und Harmonien fast auf geheimnisvolle Weise von einer unbekannten Quelle eingegeben werden.

Zwei Jahre lang studiere ich Werke alter Meister und komponiere auch im alten, tonalen Stil. Im dritten Jahr beginnt ein Studium der neueren Werke des zwanzigsten Jahrhunderts. Der Fortschritt meines Studiums gibt mir eine tiefe Befriedigung, aber immer mehr Studenten und Studentinnen beschliessen, dass sie ihre Talente anderswo besser nützen könnten. Deshalb schrumpft die Studentenzahl im fortgeschrittenen Musikstudium stetig zusammen. Die Universität belohnt meine erfolgreiche Studienarbeit mit einem vollen Stipendium, stellt aber die Bedingung, dass ich vollzeitig studieren müsse. Damit wird das Ausbalancieren von Familienleben und Studium zu einer wahren Kunst. Gute Tagesschulen für Kleinkinder sind zwar im Allgemeinen nicht nur zugänglich, sondern auch erschwinglich, weil man ja schliesslich in Amerika von jeder Frau eine Berufstätigkeit erwartet. Aber trotzdem ist es mir wichtig, einen beachtlichen Teil des Tages mit meinen Kleinen verbringen zu können. Nach meinen Vorlesungen arbeite ich deshalb meist noch eine Weile in der Bibliothek, verbringe dann aber den Rest des Nachmittages und den Abend mit den Kindern, bis sie schlafen gehen müssen. Die Familienstunden sind für mich eine Abwechslung von der Studienarbeit. Am späteren Abend kann ich mich wieder ungestört meinen Projekten widmen, Bücher und Artikel lesen und mich auf die Prüfungen vorbereiten, die sich jeweils in Abständen von ungefähr fünf Wochen folgen. Schlaf und freie Zeit werden dabei allerdings immer knapper. Nur der dreimonatige Sommerunterbruch ist eine Zeit der Erneuerung und Erholung für uns alle.


From California to Massachusetts, 1982

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Nach meinem Abschluss an der Universität mit dem Titel eines «Bachelor of Arts» studiere ich noch ein weiteres Jahr im Masters Programm in Davis, wo ich als Hauptfach Komposition mit Professor Swift belege. Am Ende des Jahres 1982 erhalte ich als erste Frau den «Olga Brose Valente Preis für ausgezeichnete musikalische Komposition». Nun ist es Zeit, Abschied von der UC Davis zu nehmen, um meinen Horizont in einer neuen professionellen Umgebung zu erweitern und mit neuen musikalischen Persönlichkeiten in Berührung zu kommen. Deshalb geht es im Herbst 1982 mitsamt den Kindern von der Westküste zur Ostküste, wo an der Brandeis University in Massachusetts ein Studienplatz im Doktoratsprogramm für Komposition und Musiktheorie auf mich wartet.

In Massachusetts finden wir uns sehr schnell zurecht. Das Klima erinnert uns sogar an die Schweiz. Aber am neuen Ort wird meine Familienverantwortung plötzlich wieder recht kompliziert, da uns einiges fehlt. Einige meiner Vorlesungen finden am späteren Nachmittag nach dem Unterrichtsende der Primarschule statt, doch dann ist für Kinder im Alter der meinen keine Betreuung erhältlich. Zweitens muss ich feststellen, dass die Primarschulen an unserem neuen Wohnort viel zu wünschen übrig lassen. J.Sarahs Klasse, die eigentlich das Einmaleins lernen sollte, darf zum Beispiel während der Schulzeit tagelang kochen. Die Mathe wird ganz einfach von der Lehrerin vermieden, weil sie diese grundsätzlich verabscheut. Ich bin sehr besorgt und kann es nicht verantworten, dass meine Kinder eine verstümmelte Schulausbildung erhalten sollen, während ich an einer hervorragenden Universität studiere.

So bleibt uns keine andere Wahl, als wiederum auf Wohnungssuche zu gehen. Wir setzen unsere Hoffnung auf eine der benachbarten Gemeinden, wo wir ein besseres Schulwesen vermuten. Mit meinen beschränkten Studentenmitteln ist es aber gar nicht so einfach, etwas Passendes und Erschwingliches zu finden. Mancher Vermieter weist uns im Voraus zurück, wahrscheinlich aus Angst, dass wir die Miete nicht regelmässig bezahlen würden. Wer hat denn je von einem reichen Komponisten gehört — von einer Kompositionsstudentin mit zwei Kindern schon gar nicht zu reden. Aber endlich begegnen wir einem verständnisvollen Landlord und Musikliebhaber, der sich von der Dringlichkeit unserer Familiensituation überzeugen lässt und bereit ist, uns eine ältere Wohnung in Arlington zu vermieten.


Our New Home: Arlington, MA

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Im freundlichen und blühenden Städtchen Arlington geht alles besser. Arlington ist nicht weit von Boston entfernt und grenzt an Cambridge mit der berühmten Universität Harvard. Unsere Wohnung ist zwar alt und etwas reparaturbedürftig, aber wir haben genügend Platz, und ich kann bei Bedarf die ganze Nacht Musik spielen, ohne jemanden zu stören. Dazu ist die Verkehrslage sehr günstig. Per Bus und Bahn ist es möglich, die Universitäten Brandeis und Harvard und auch die Stadt Boston mühelos zu erreichen. Glücklicherweise erfüllt unser Zügeln auch wirklich seinen Hauptzweck. Beide Kinder erhalten nicht nur tüchtige Lehrerinnen, J.Sarah darf sogar in einem Programm für begabte Kinder teilnehmen. Adrian bewundert seine neue Lehrerin, die ihm viel Aufmerksamkeit schenkt und ihn fördert. «Mein kleiner Professor» nennt sie ihn manchmal liebevoll, weil er zwar viel versteht, aber oft auch ein zerstreuter Knabe ist. In Arlington befreunden wir uns gleich am ersten Tag mit lieben Nachbarn, die einen stummen Knaben adoptiert haben. Die drei Kinder werden sofort enge Spielgefährten und meine beiden lernen schleunigst die Zeichensprache des stummen Earl. Auch das Kinderhüteproblem findet eine Lösung, indem es mir gelingt, mit den Nachbarn einen gegenseitigen Austausch zu organisieren. Somit wird es mir endlich möglich, mich meinen Vorlesungen und der neuen Assistentenstelle an der Universität ohne schlechtes Gewissen widmen zu können.


Preparing for the Ph.D. at Brandeis University, 1982-85

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Mit der Universität Brandeis komme ich an eine musikalisch hochstehende Fakultät. Jährlich werden hier von allen Bewerbungen nur drei Kompositionsstudentlnnen ins Doktoratsprogramm aufgenommen, und es ist ein grosses Privileg, diese Chance zu bekommen. Die kleine Anzahl der Studierenden in dieser Disziplin macht es möglich, dass sich alle Kompositionsstudenten und –studentinnen der verschiedenen Stufen gleichzeitig für die wöchentliche «Kompositionswerkstatt» treffen. Alle bringen die Kompositionsarbeit der vergangenen Woche zur gegenseitigen Besprechung mit. Unter Leitung des Professors, eines erfahrenen Komponisten und ausgezeichneten Pianisten, wird das Neugeschaffene mit Ehrlichkeit und Takt diskutiert, ohne Komplimente auszutauschen.
Zuerst findet die Musik selbst Beachtung: Der Komponist oder die Komponistin macht der Gruppe die Absicht einer Passage im Stück klar. Sogleich beginnen die Diskussionsfragen: Ist der Abschnitt auch wirklich lang genug, der Kontrast stark genug? Bringt die Phrasierung den rechten Fluss in Gang? Ist der Kontrapunkt nicht vernachlässigt worden? Manchmal werden auch Instrumentationsfragen aufgeworfen: Ist die Musik einem bestimmten Instrument gerecht gesetzt? Wäre vielleicht ein anderes Instrument besser geeignet, eine gegebene Passage zu vermitteln? Stimmt die Artikulation auch wirklich mit der Klangvorstellung überein? Sogar die Notenschrift selbst wird einer detaillierten Kritik unterworfen, da diese dem Spieler den Eindruck der Musik, also mehr als nur die Noten selbst, vermitteln soll. Nach stundenlanger Besprechung geht's meist in das kleine, benachbarte «Delikatessen» zum Kaffee oder zu einem kurzen Imbiss. Das Fachsimpeln aber geht weiter...

Für mich gibt es plötzlich so viel Neues von den Professoren und den forgeschrittenen Komponisten zu lernen. (Ja, sie sind fast alle männlich, wie es heute noch auf dieser Stufe zu erwarten ist.) Die neuen Werke, die in der «Kompositionswerkstatt» sozusagen vor meinen Augen entstehen, bringen mir eine Fülle von modernen Ideen und Möglichkeiten vor Augen. An der Universität Brandeis wird mir immer mehr bewusst, dass die Interpreten und lnterpretinnen die besten Kollegen einer Komponistin sind. Sie sind es schliesslich, die mit ihrem Vortrag eine Idee hörbar machen und somit die Verbindung zum Publikum herstellen. Dazu können sie als Fachleute einer Komponistin viele spieltechnische Tips geben und im Verlauf des Kompositionsprozesses die neuen Ideen spieltechnisch testen. An der Uni Brandeis kümmert sich zum Beispiel ein Streichquartett, das in stetiger Residenz ist, nebst den eigenen Konzerten auch noch um unsere Kompositionsarbeit. Das Quartett ist insbesondere für spieltechnische Fragen zuständig, welche Streichinstrumente betreffen. Rhonda Rider, die Cellistin des Quartetts, berät mich im Verlauf der Komposition meines experimentellen Solostückes «Daedaleum» für Cello, das Hans Ulrich Stohler in Auftrag gegeben hat. Am Schluss gibt sie dem Stück eine brilliante Aufführung, die auch sehr gut aufgenommen wird.


«National Project» 1985: First Commission from Pro Helvetia

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Die Umgebung Bostons offeriert fast täglich eine Fülle von interessanten Konzerten. Da sich einige berühmte Konservatorien und Universitäten in dieser Gegend befinden, leben und wirken hier auch prominente Komponisten (vereinzelt auch Komponistinnen) und hochbegabte Interpreten und Interpretinnen. Viele ausgezeichnete Uraufführungen, denen ich in Boston, an der Universität Harvard, am Wellesley College und am Massachusetts Institut für Technologie, usw., beiwohne, halten mich mit ihrem hohen Niveau absolut im Bann.

Auf Einladung der Universität Harvard studiere ich dort ein Jahr lang beim bekannten Komponisten Donald Martino, der ein sehr bescheidener Mensch ist und mir immer wieder mit seiner Weisheit imponiert. Mein nächster Lehrer, Komponist und Kritiker Arthur Berger, weiss einige Geschichten über Igor Stravinsky zu erzählen, den er noch selbst gekannt hat. Berger hält unsere «Kompositionswerkstatt» oft in seinem geräumigen, malerischen Privatstudio in Cambridge, damit der bereits betagte Komponist nicht die mühsame Reise an die Universität machen muss.

Mein letztes Studienjahr bringt eine grosse Belohnung für mich. Zum ersten Mal erteilt mir die Kulturstiftung Pro Helvetia aus der Schweiz einen Auftrag für mein Ensemblestück «Inferences». Viel habe ich der Pianistin Emmy Henz-Diémand von Aarau zu verdanken, die mit dem Frauenmusikforum das Nationalprojekt 1985 organisiert, ein Festival, das ausschliesslich Werken von Komponistinnen gewidmet ist. Unsere Kompositionen werden auf einer Tour in sechs Schweizerstädten, ein Jahr später auch noch in Heidelberg in Deutschland gespielt. Für die Uraufführung meines Werkes im Radiostudio Zürich reise ich, zusammen mit meiner Tochter, in die Schweiz. Im Sommer 1985 zügeln wir wieder nach Kalifornien, wo ich im Herbst an der UC Davis Musiktheorie unterrichten soll.


A Day In My Life, 1998

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Wie sieht heute (geschrieben 1998) ein typischer Tag in meinem Leben als Komponistin und Lektorin an der UC Davis aus? Um zirka halb neun parkiere ich mein Auto in der Nähe des Musikgebäudes. Die Sonne strahlt hell. Durch meine Sonnenbrille wirkt das Grün der vielen hohen Bäume um die Universität noch intensiver. Überall sind junge Menschen zu sehen, die sich hastig zu Fuss oder per Velo fortbewegen. Ein paar Studentinnen und Studenten, die alle ein kleines Büchlein vor sich halten, gestikulieren aufgeregt miteinander. Wie ich mich ihnen nähere, wird mir bewusst, dass das SchauspielschülerInnen sind, die sich auf eine Theaterprobe vorbereiten. Eine junge Studentin, die zum Laboratorium des benachbarten Gebäudes eilt, winkt mir von weitem zu. Nun höre ich vom offenen Fenster des Musikgebäudes eine Mazurka von Chopin. Wie ich in das Gebäude eintrete, merke ich, wie viel kühler es drinnen ist als draussen, wo es bereits schon fast unerträglich heiss ist. In meinem Briefkasten finde ich meine «Post»: Information über Konzerte, eine Reklame für ein neues Buch, Studentenarbeiten, die ich noch vor der Vorlesung bewerten will, eine Campuszeitung.

Vor meinem Büro wartet schon ein Student: «Dr. Niederberger, darf ich Ihnen noch schnell meine Komposition zeigen? Ich habe gestern einen tollen Einfall gehabt und habe dann die halbe Nacht komponiert.» Natürlich ist es mir wichtig, diesen eifrigen jungen Mann zu ermuntern. Ich höre mir das Neue sorgfältig an und mache ihm weitere Vorschläge.

Eine Stunde später stehe ich im Vorlesungssaal, wo wir ein Werk von Beethoven besprechen. Eine Studentin findet, dass Mozarts Musik ‘besser’ klinge. Ich nehme diese Aussage als Ausgangspunkt für eine Diskussion über stilistische Unterschiede zwischen den beiden Komponisten. Hier und dort zweige ich in die Formen– und Harmonielehre ab, damit die Studentinnen und Studenten Gelegenheit haben, ihre theoretischen Grundlagen stetig zu erweitern und zu vertiefen. Nach der Diskussionsstunde verlangen zwei Studentinnen meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Auch sie arbeiten an einer Komposition und wollen mir ihren Fortschritt daran zeigen.

Zwölf Uhr dreissig. Endlich im Büro angekommen, suche ich nach meinem Lunch (ein mitgebrachtes Mittagessen). Dann gehe ich zum Flüsschen hinter dem Gebäude und entspanne mich während einer halben Stunde.

Nach meiner Vorlesung am Nachmittag fahre ich schnell heim, weil ich noch meinen Bruder Paul anfragen will, ob er mir eine Kopie von einer Aufnahme senden könnte. Wenn ich mich beeile, kann ich ihn noch vor Mitternacht in der Schweiz erreichen. Später faxe ich einem Pianisten eine Seite meiner fertig kopierten Musik, damit er mit Üben anfangen kann.

Endlich habe ich Zeit zum Komponieren. Ich verschwinde in meinem Studio und tauche erst zwei Stunden später wieder auf.

Heute habe ich einen guten Tag gehabt, die Ideen sind mir reichlich zugeflossen. (Es gibt manchmal auch Tage, da ist es nicht so einfach, etwas aufs Papier zu bringen.) Vor dem Nachtessen lese ich noch meine elektronische Mail. Ein kranker Student will wissen, was wir in der Vorlesung behandelt haben und was die ‘Hausaufgaben’ für die nächste Vorlesung seien. Eine Studentin von einem früheren Jahrgang berichtet, dass sie so schnell wie möglich einen Empfehlungsbrief von mir für eine Bewerbung brauche.

Nach dem Nachtessen gilt es aufzuräumen, dann reichts für eine Pause. Ramón und ich trinken zusammen einen heissen Tee, plaudern über den vergangenen Tag und hören uns die Nachrichten an. Etwas später mache ich mich wieder auf den Weg zur Uni. Heute Abend findet nämlich ein Konzert neuer Musik statt, das ich unbedingt hören möchte. Ramón ist sich gewöhnt, dass ich pro Woche zwei bis drei Konzerte besuche und hat Verständnis dafür. Er ruht sich daheim aus und liest unterdessen ein gutes Buch. Bevor ich Feierabend mache, schreibe ich den Empfehlungsbrief und drucke ihn am Computer aus. Dann breite ich nochmals die Seiten meiner neuen Komposition vor mir aus, überdenke sie und skizziere eine Fortsetzung. Die Abendstille hat etwas Magisches und lässt mir die besten Gedanken einfallen. In meinen Träumen höre ich manchmal die Fortsetzung einer Idee, die mich tagsüber beschäftigt hat.


Historical Details About Women Composers

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Warum gibt es nur wenige Komponistinnen? Nur wenige Komponistinnen haben bis zum zwanzigsten Jahrhundert in der Musikgeschichte einen Platz gefunden. Der Grund dafür ist wohl die früher weit verbreitete falsche Ansicht, dass Frauen unfähig seien, dieses schwierige Metier erfassen zu können. Das Handwerk des Komponierens wurde deshalb fast ausschliesslich in der männlichen Domäne weitergegeben. Frauen und Mädchen, die das Komponieren erlernen wollten, wurden bald aktiv daran gehindert, bald ganz einfach von professionellen Kreisen ignoriert. Wie ist es aber möglich, dass die Musikgeschichte trotzdem immer wieder komponierende Frauen verzeichnet?

Musikalisch hochstehende, begüterte und noble Familien wussten ihre Töchter über die gesellschaftliche Norm zu stellen. Sie liessen ihre Töchter, manchmal zusammen mit ihren Söhnen, in den Genuss einer sorgfältigen musikalischen Ausbildung samt Komposition kommen. Der Unterricht wurde bald von berühmten Hauslehrern, bald von den komponierenden Vätern selbst vermittelt. Die gleichwertige musikalische Ausbildung hatte zur Folge, dass diese Frauen ihre Talente erfolgreich entwickeln konnten.

Im zwölften Jahrhundert komponierte, zum Beispiel, die Äbtissin Hildegard von Bingen (1098-1179), die aus einer noblen Familie stammte. Mit grosser Begabung schrieb diese Nonne Kirchenmusik für ihr Frauenkloster Rupertsberg. Von Bingen war eine starke Führerin, die die musikalische Tätigkeit ihres Klosters trotz hindernder Einmischungen von Seiten der Mainzer Prälaten zu verteidigen wusste.

Ein weiteres geschichtlich wichtiges Beispiel einer komponierenden Frau ist die Italienerin Francesca Caccini (1587-1638). Von ihrem berühmten Vater Giulio selbst in Gesang und Komposition unterrichtet, wurde diese Sängerin die erste Opernkomponistin der Musikgeschichte.

Im neunzehnten Jahrhundert entstanden die zahlreichen Werke der beiden Komponistinnen Klara Schumann, Gattin Robert Schumanns, und Fanny Hensel, Schwester Felix Mendelssohns. Fanny und Felix sind, musikgeschichtlich betrachtet, ein interessantes Geschwisterpaar. Im frühen Kindesalter wurden nämlich die beiden Mendelssohnkinder gemeinsam in Komposition unterwiesen. Fanny legte eine derart grosse Begabung an den Tag, dass sie schon als junges Mädchen ihre Musik veröffentlichen konnte. Aber leider förderte die Familie Mendelssohn nur den Sohn als Komponisten, während Fanny in den Reifejahren von ihrem Vater sanft auf ihre häuslichen Pflichten aufmerksam gemacht wurde. Sogar ihr Bruder Felix soll sie angehalten haben, das Komponieren zu lassen, da sich diese Beschäftigung nicht für eine Dame ihrer gesellschaftlichen Stellung gehöre.

In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hat sich in der westlichen Welt eine Wandlung in der gesellschaftlichen Einstellung bezüglich der musikalischen Ausbildung von Mädchen und Frauen vollzogen. Die neue Aufgeschlossenheit hat zur Folge, dass heute begabte Töchter auch um Studienplätze in Komposition an Konservatorien und Universitäten (USA) wetteifern können. In der professionellen Welt spielen zwar Vorurteile immer noch eine relativ grosse Rolle, aber mit einer gleichwertigen Ausbildungsmöglichkeit ist das Spielfeld nun doch etwas ausgeglichener geworden. Somit ist es zahlreichen Komponistinnen in den letzten Jahrzehnten gelungen, sich mit ihren Werken in der der professionellen Welt zu bewähren.

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